Verwurzelt?



Wurzeln sind die Quelle oder Ursache von etwas. Was meinen wir, wenn wir über menschliche Wurzeln sprechen? Ich vermute, es geht darum, woher unsere Vorfahren kommen. Wie viel wissen wir? Wie viel ist relevant für uns? Menschen wandern seit langer Zeit herum, und das ist ein grundlegender Teil der menschlichen Erfahrung. Unsere heutigen Standorte und Identitäten sind im Wesentlichen durch Migration geprägt.

In seinem Prolog zu The Lies That Bind Us stellt Kwame Anthony Appiah die Idee in Frage, dass Identität durch unsere Wurzeln in einer Ethik, Kultur oder Nationalität festgelegt oder vorbestimmt ist. Er argumentiert, dass die Menschen diese Wurzeln zwar oft als definierende Merkmale betrachten, sie aber komplexer und fluid sind und durch Geschichten geformt werden, die wir uns selbst und anderen erzählen.

Ich habe Wurzeln in Ghana, England, der Schweiz und Deutschland; mein Vorname stammt aus Simbabwe. Je nachdem, was gefragt wird, kann die Antwort zu Komplikationen führen. Obwohl es schwierig sein kann, mit einem multikulturellen Hintergrund aufzuwachsen, sehe ich es als Vorteil. Als ich sechs Jahre alt war, zogen meine Familie und ich von London nach Zürich. Ich sprach ausschliesslich Englisch und musste deshalb Schweizerdeutsch lernen, aber auch «die Schweizerische Art» kennenlernen und verstehen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich hier gut eingelebt habe. Meine Erfahrung war zum Teil davon geprägt, wie meine Mutter anders behandelt wurde als mein Vater, aber auch durch eigene Erfahrungen erfuhr ich früh, was Rassismus ist. Deshalb musste ich mich schon früh mit Fragen über Race, Colorism und Nationalität auseinandersetzen. Wir sprechen zu Hause Englisch, lesen englische Bücher, schauen englisches Fernsehen und essen Essen aus der ganzen Welt. Auch die ghanaische Kultur war immer präsent, inklusive Erzählungen, Musik, Geschichte, Traditionen und Essen. Meine Mutter hielt uns in Kontakt mit unseren Wurzeln, und uns wurde auch viel über unsere Familiengeschichte erzählt, über meine Grossmutter und ihre eigene Geschichte. Da wir in der Schweiz lebten, war es ihr wichtig, dass wir diese weiteren Verbindungen nicht verlieren. Meine Grossmutter väterlicherseits hielt uns mit unseren schweizerischen und deutschen Wurzeln auf dem Laufenden und sorgte dafür, dass wir viel von der Schweiz sahen, Skifahren lernten und unsere Familie in Deutschland kennenlernten. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich glaube, dass das Kulturerbe uns nicht definiert, sondern bereichert.

Ich erinnere mich, dass ich als Kind dazugehören wollte; erst als ich erwachsen wurde und mich besser ausdrücken konnte, fühlte ich mich auch mehr zugehörig. Sobald ich konnte, ging ich nach Ghana, um dort meine anderen Wurzeln zu entdecken, was eine wundervolle Erfahrung für mich war. Es machte mir klar, dass ich nicht nur an einen Ort gebunden bin, und ich schätze das Wissen, das meine Mutter mir gegeben hat. Ich bin zum Teil Schweizerin, aber das ist nicht mein einziges Zuhause. Ich habe gemerkt, dass ich nicht die Hälfte von irgendetwas, sondern eher Teil von verschiedenen Orten bin. «Woher kommst du?» Ist eine Frage, mit der ich oft angesprochen werde. Meistens wird diese Frage aus Neugier gestellt, sie kann aber auch sehr persönliche Gefühle in Bezug auf unsere Verbindung zu einem Ort und das Gefühl, anders zu sein, hervorrufen.

In Gesprächen mit Freund:innnen untersuchen wir, was es bedeutet, sich der Frage «Woher kommst du?» zu stellen. Diese Bedeutung kann sich, je nachdem, mit welcher Gruppe von Wurzeln ein Mensch verbunden ist, verändern. Die folgenden Antworten versuchen, zu vermitteln, welche Bereicherung und zugleich Herausforderung es bedeutet, mit einem multikulturellen Hintergrund aufzuwachsen. Sie verdeutlichen auch, wie Migration nicht nur einen Teil der Identität formt, sondern auch Zugehörigkeit beeinflusst. Und sie zeigen, wie vielseitig Schweizer:innen sind.


Angi

SIND WURZELN EIN THEMA FÜR DICH, WAS SIND FÜR DICH WURZELN?

ANGI:
Ich weiss ja eigentlich, wo meine Wurzeln herkommen, aber was tiefer liegt, weiss ich nicht genau. Meine Wurzeln sind aus Sizilien, und Sizilien war ja eine Handelsinsel, also könnte da etwas Arabisches, Griechisches, Römisches dabei sein, das weiss ich aber nicht. Ich weiss nur, dass ich aus Sizilien bin.

Ich habe keine Schweizer Seite, meine Mutter ist auch Italienerin. Meine Grosseltern sind nach dem Zweiten Weltkrieg in die Schweiz ausgewandert, und meine Mutter wurde hier geboren. Deswegen spricht sie auch perfekt Schweizerdeutsch. Die Schweiz ist ihr Zuhause, sie ist in Unterägeri im Kanton Zug aufgewachsen, also in der Zentralschweiz. Sie ist hier geboren, während ihre Schwestern in Italien zur Welt gekommen sind. Sie ist die Jüngste von sechs. Die Grosseltern sind mit fünf Kindern hierhergekommen.

CÉLINE: 
Für mich selbst war es nie ein grosses Thema, bis ich Mutter geworden bin. Denn ich denke mir immer: Was ist, wenn die Kinder zu dir kommen und dich fragen: «Woher kommst du?» oder «Wo sind deine Wurzeln?». Man weiss oft nur einen Bruchteil, weil vieles, was weiter zurückliegt, nicht gut dokumentiert ist. Man fragt dann seine eigenen Eltern, aber die wissen oft auch nicht viel, weil früher nicht so viel über die Vergangenheit gesprochen wurde.

Meine Mutter hat mir früher auch nie viel erzählt, wenn ich gefragt habe, wie es mit der Familie aussieht. Erst seit ich erwachsen bin und konkret gefragt habe: «Sind wir nur ursprünglich aus China? Oder haben wir auch Wurzeln woanders?» hat sie mir gesagt, dass sie es nicht genau weiss. Sie sagte, dass es damals aufgrund von Kriegen in bestimmten Regionen Vermischungen gab, zum Beispiel in Südkorea oder durch die Übernahme von Gebieten.

Man kann nur spekulieren: Habe ich Vorfahren in Malaysia, Singapur oder Vietnam? Was meine Mutter ausschliesst, sind Laos, Thailand und Kambodscha, aber auch das ist nicht sicher. Ich weiss nur, dass meine Eltern aus China und Frankreich stammen.

Von der Seite meines Vaters weiss ich leider viel zu wenig. Aber ich vermute, dass ich nicht nur französische, sondern auch schweizerische Wurzeln habe, da er aus der Region Jura stammt, die früher zu Frankreich gehörte und später zur Schweiz. Mein Vater hat also französische Wurzeln, ist aber im Jura in der Schweiz aufgewachsen.

In meiner Familie war das Thema Nationalstolz nie sehr wichtig. Man wusste, woher man kam, aber die Familiengeschichte war nicht unbedingt zentral. Vor allem die Urgrosseltern, die die Kriegszeit erlebt haben, wollten kaum darüber sprechen.


RAMIS:
Wurzeln sind für mich ein kompliziertes Thema. Mein Vater ist teils Syrer, teils Libanese, seine Mutter ist auch teils Armenierin. Meine Mutter ist teils Schweizerin, teils Österreicherin, und ich habe einen englischen Pass. In der Schweiz bin ich Ausländer, vielleicht Araber, je nachdem, ob man mich sieht oder nur meinen Namen kennt. Wenn ich ins Ausland gehe, bin ich der Schweizer. Darum: Was sind Wurzeln genau?

Nationalstolz sehe ich nicht wirklich, als etwas Positives. Für mich spielt es keine Rolle, aus welchem Land man kommt. Ich verstehe nicht, warum man auf etwas stolz sein sollte, das die Vorfahren gemacht haben, womit man selbst nichts zu tun hat.

Trotzdem denke ich, dass meine Wurzeln schon einen Teil meiner Identität ausmachen. Wenn ich nur Schweizer Wurzeln hätte, würde ich anders reden und denken, also beeinflusst es schon, wer ich bin.

LISA: 
Für mich hat es einen grossen Unterschied gemacht, dass mein Vater aus Nigeria stammt und nicht meine Mutter. Ich habe eine engere Beziehung zu meiner Mutter und fühlte mich deshalb lange mehr mit der Schweiz verbunden. Ich hatte eine gute Beziehung zu meinem Vater, aber nicht sehr eng. Bei bestimmten Themen, wie zum Beispiel meinen Haaren, konnte mir meine Mutter nicht helfen, weil sie andere Haare hat.

Für mich spielte die Hautfarbe lange keine Rolle, bis mir in der Schule jemand das N-Wort gesagt hat. Ich wusste damals gar nicht, was das bedeutet, weil ich so behütet aufgewachsen bin. Erst da wurde mir bewusst, wie ich aussehe. Davor hatte ich das nie so wahrgenommen.

Als Kind trug ich einen Afro. Einmal sagte ein Lehrer zu mir: «Bist du in einen Sturm geraten?» Seitdem trage ich meine Haare nicht mehr offen. Auch andere Kinder machten Kommentare, wie «Hast du in die Steckdose gefasst?». Es waren immer meine Haare, die ein «Problem» darstellten, nicht meine Hautfarbe.

Es ist unglaublich, dass es nur zwei solche Kommentare gebraucht hat. Weisst du hingegen, wie oft Leute gesagt haben: «Woah, deine Haare». Das war auch immer ein nerviger Kommentar als Kind. Oder «Schon sind die Hände drin» – wie oft mir das passiert ist. Eigentlich ist Begeisterung für deine Haare da, aber du nimmst es irgendwie nicht positiv auf.

In der Sekundarstufe hatte ich eine richtige Krise, weil es zwischen 2007 und 2009 einfach kein Make-up in meinem Hautton gab, keine passenden Produkte. Haare glätten war leicht – «je glatter, desto besser» – und ich habe mich in dieser Zeit überhaupt nicht wohlgefühlt. Das Internet war damals auch noch nicht so weit, dass man einfach «curly mixed girl hair» bei Google eingeben und Resultate finden konnte. Ich war richtig verloren. Da ist mir wirklich aufgefallen, dass mir das gefehlt hat. In solchen Momenten habe ich mir einfach gewünscht, dass meine Mom dieser Teil von mir ist und mir ähnlicher, besonders bei diesen kleinen Alltagsproblemen, die man einfach hat.

Céline

WIRST DU OFT GEFRAGT: «VON WO KOMMST DU?»
ANGI:
Ja, aufgrund meines Namens schon, der sagt schon alles. Aber vom Aussehen her nicht, da bin ich schon als viele Nationalitäten bezeichnet worden. Albanien und Serbien fand ich immer interessant. Einmal wurde ich gefragt, ob ich Peruanerin bin, das fand ich aber ein bisschen weit hergeholt, da ich sagen würde, ich sehe sehr europäisch aus. Aber ich fand das nicht negativ, sondern eher lustig.

Ja gut, ich bin ja aus Zürich, also da hast du oft Kinder mit Migrationshintergrund in der Klasse gehabt, und da ist das Thema logischerweise immer wieder mal aufgekommen: «Woher kommst du?». Ich selbst habe auch oft Kinder gefragt, woher sie kommen. Es war nichts Erniedrigendes oder Abwertendes. Das mache ich auch heute noch, wenn ich ehrlich bin. Ich frage immer noch: «Aus welchem Land kommst du eigentlich?». Man lernt die Person besser kennen.

CÉLINE:
Ja, also viele fragen immer: «Bist du Latina?», «Kommst du aus Spanien?» – wegen meines dunkleren Teints. Weil viele Asien, vor allem Japan, Südkorea oder China, mit heller Haut verbinden und dann sagen: «Oh, du bist ja dunkel für eine Chinesin». Wenn sie fragen und ich sage: «Nein, ich bin aus Frankreich und China», sagen viele: «Woah, was für ein Mix, aber du siehst gar nicht so aus». Wahrscheinlich ist es mein Teint, der das ausmacht. Ich denke, viele verbinden dunkle Haare, braune Augen und einen olivfarbenen Teint mit Südamerika oder Spanien. Und vielleicht auch, weil ich nicht die typisch chinesischen Gesichtszüge habe, wie man sie sich vorstellt. Das ist eben auch ein Mythos – zum Beispiel hat meine Mutter grosse, runde Rehaugen und nicht die mandelförmigen Augen, wie man sie immer wieder hört und automatisch mit einem Teil Asiens verbindet.

Aber wie gesagt, man kann nicht verallgemeinern, wir haben viele Facetten. Nur weil du aus einem Land kommst, heisst es nicht, dass du dem Bild entsprichst, das sich andere von der Bevölkerung machen.

Die Mehrheit der Menschen fragt nach meiner Nationalität, weil sie wirklich wissen wollen, mit welchen Leuten sie es zu tun haben, was für ein Mensch ich bin und wie ich ticke. Dann gibt es auch diejenigen, die vielleicht ein Gesprächsthema suchen, um zum Beispiel die Stimmung aufzulockern, wenn du irgendwo neu anfängst.


RAMIS:
Ja, sehr oft. Ich habe es ehrlich gesagt noch nie als negativ empfunden, wenn mich jemand fragt: «Woher kommst du?». Was ich sehr oft merke, ist, dass Personen mit Migrationshintergrund das eher fragen. Weil sie teilweise auch wollen, dass du von woanders kommst, das ist mir schon oft aufgefallen.

Ja, ich frage oft auch, weil Leute das gerne erzählen. Bestes Beispiel: Auf einer Baustelle, wenn du jemanden vom Balkan fragst: «Woher kommst du?», und er sagt: «Albaner», und ich frage dann: «Bist du Albaner oder Kosovar?», weisst du, wie sie strahlen? Weil das für sie wichtig ist. Ich frage sehr oft, weil es halt eine gewisse Sympathie aufbaut, du interessierst dich für sie. Das Lustige ist, genau heute hat mich jemand im Training gefragt: «Woher kommst du?», und ich habe gesagt: «Ein bisschen von dort, ein bisschen von da, ich bin von überall.»

LISA: 
Ich finde es schwierig, das zu beantworten, weil es mich nicht so stört, wie es vielleicht andere aus der Community stört. Ich habe lange nicht gecheckt – wieder so das Naive –, ich habe sehr lange das Negative daran nicht gesehen. Weil ich auch neugierig bin. Wenn ich jemanden sehe, der aus Nigeria sein könnte und ich das Gefühl habe, ich könnte connecten, frage ich auch sehr schnell: «Woher kommst du?». Deshalb habe ich es selbst nie als negativ empfunden. Und weil es mich nicht stört, zähle ich nicht: «Ach, schon wieder hat mich jemand gefragt». Ich denke, es kommt schon eher schnell mal auf, wenn mich jemand kennenlernt, aber es stört mich nicht.

Es gehört zu mir, und ich erzähle gerne. Ich bin ja auch nicht nur Schweizerin, und für mich ist es klar, dass ich da heraussteche. Deswegen stört es mich nicht. Ich verstehe aber auch den Teil der Community, der sagt: «Es stört mich sehr, weil es dich eigentlich nichts angeht». Wenn jemand blauäugig und blond ist, frage ich auch nicht: «Woher kommst du?». Da sehe ich schon den Unterschied. Ich frage häufig, weil es mich interessiert, ob ich recht habe. Ich mache ja quasi eine Einschätzung in meinem Kopf und will dann wissen, ob ich richtig geraten habe. Manchmal kann man auch Reisetipps oder etwas Neues erfahren. Ich musste auch lernen, dass diese Frage nicht immer so positiv gemeint ist oder vielleicht urteilend wirken kann.

Bei mir kommt die Frage oft im Zusammenhang mit meinem Namen auf. Bei meinem Vornamen würde man das nicht vermuten, aber bei meinem Nachnamen schreit es einfach danach – das ist ja logisch. Ich wurde oft gefragt: «Ah, woher kommt dein Nachname?» und dann ist es für mich klar. Es ist ein Teil von mir.

Wenn mich in der Schweiz Leute fragen, woher ich komme, und ich sage aus Zürich, dann wird nicht weiter nachgefragt. So habe ich das oft erlebt. Aber wenn du im Ausland bist und jemand fragt, akzeptieren sie es zwar, aber sie wundern sich: «Ok, ein Teil vielleicht, aber der andere?». Deswegen habe ich es mir schon angewöhnt, einfach zu sagen: «Meine Mutter ist Schweizerin und mein Vater aus Nigeria». Weil ich immer das Gefühl habe, darauf wollen sie eigentlich hinaus.

Ramis

MIT WELCHEN ORTEN IDENTIFIZIERST DU DICH, WO FÜHLST DU DICH ZUHAUSE?

ANGI:
Mein Zuhause ist die Schweiz. Meine Wurzeln sind nur meine Abstammung. Es ist wie bei einem Schweizer, der in Zürich geboren ist, aber im Ausweis steht keine Ahnung, Guggisberg, Bern – aber sein Zuhause ist Zürich, nicht Guggisberg, Bern. Bei mir ist das halt auch so: Mein Zuhause ist Zürich und nicht Sizilien.

Meine Mutter hat ja fünf Schwestern, und sie haben jeweils etwa zwei Kinder. Ich habe zwar nicht mit allen Kontakt, aber mit manchen bin ich schon nah. Bei ihnen ist es anders, weil ihre Mütter als Teenager oder junge Erwachsene aus Italien in die Schweiz gekommen sind, und ihre Partner waren auch alle Italiener, die als junge Erwachsene hierhergekommen sind. Dementsprechend wurde bei ihnen zu Hause auch Italienisch gesprochen. Sie gehen jedes Jahr an denselben Ort nach Italien in die Ferien und haben eine andere Sicht als ich. Da ich ja ein Scheidungskind bin und mit meiner Mutter aufgewachsen bin, haben wir zu Hause gemischt gesprochen, aber mehr Deutsch. Und wie gesagt, wir sind nicht immer nach Sizilien in die Ferien gefahren, sondern mal nach Spanien, in die Türkei, nach Portugal, Deutschland und und und.
CÉLINE:
Ich identifiziere mich mit China und der Schweiz. Heute fühle ich mich schon mehr in der Schweiz zu Hause, weil ich hier alles habe, meine Mama und andere Verwandte, meine eigene Familie, Ehemann und Kinder und auch den Wohnsitz. Früher habe ich mich noch mehr in China zu Hause gefühlt, als ich oft dort war.

 
RAMIS:
Ich fühle mich in der Schweiz nicht zu Hause, ich fühle mich auch in Gran Canaria, wo ich jetzt wohne, nicht zu Hause. Im Moment ist es schwer, aber kein grosses Thema. Ich muss kein festes Zuhause haben, es ist mir nicht so wichtig wie anderen Leuten, die das unbedingt brauchen. Es ist ihnen wichtig, dass sie jemanden haben, der hinter ihnen steht. Ich habe meine Mutter, mit der ich telefonieren kann, ja klar, da bin ich auch mega froh, oder ja, meinen Vater natürlich. Mein Zuhause kann überall sein, es kommt mit mir mit.

Als Kind beschäftigt man sich viel mehr damit, mit Zugehörigkeit. Man will irgendwo dazugehören. Klar, als Kind ist mir das schon aufgefallen. Sehr oft halt der Name, wie gesagt, immer die erste Frage: «Woher kommst du?», und so. Ab dem Zeitpunkt, als klar war, dass ich nur Schweizerdeutsch kann, war das meistens kein Thema mehr.

Ein gutes Beispiel: In meiner Firma, wo es am Anfang einen ziemlich hohen Schweizeranteil gab, habe ich schon ein paar leicht rassistische Sachen erlebt. Einmal – da musste ich einfach schmunzeln – sass ich mit Thomas im Café, und dann ging es irgendwie um Araber oder so, und er dreht sich zu mir um und sagt: «Ja, du bist ja eh ein Schweizer». Das ist, ja, speziell. Ich meine, ja, was bin ich denn?

Es ist eher der Umgang. Du bist halt einen gewissen Umgang gewohnt. Zum Beispiel bist du im Urlaub und triffst Schweizer:innen, die wieder denselben Umgang haben wie du – da freust du dich natürlich wahnsinnig.

Ich sehe mich am meisten als Schweizer, weil ich hier aufgewachsen bin und nur diese Sprache spreche.

LISA:
Das hast du sicher auch: Wenn ich da bin, falle ich auf, wenn ich in Nigeria bin, falle ich auf, vielleicht sogar noch krasser. Der einzige Moment, in dem ich das Gefühl hatte, es interessiert gerade niemanden, war in Barbados. Ein Ort, mit dem ich nichts zu tun habe. Ich war einfach im Urlaub, und bis ich dort war, wusste ich nicht einmal, dass mir das fehlt. Ich war dort und habe gemerkt, ich sehe aus wie alle, und alle sehen aus wie ich. Mein Freund war dabei, und ich habe versucht, ihm dieses Gefühl zu erklären. Er hat sich für mich gefreut, aber er konnte es nicht ganz verstehen. Das war ein krasses Erlebnis für mich und ein Gefühl, das ich vorher gar nicht kannte. Ich habe mich noch nie so zu Hause gefühlt.

An der Hochschule musste ich mal ein Erlebnis erzählen, und die Frage war: «Wo fühlst du dich zu Hause?». Da habe ich auch Barbados gesagt. Dort ist mir aufgefallen, dass es Menschen gibt, die einfach kein Verständnis für das Gefühl haben, dass man sich unterbewusst hier nicht zu Hause fühlen kann, einfach wegen des Aussehens.

So oft sagen Leute: «Dich kenne ich» oder «Wir hatten schon mal ein Modul zusammen» – keine Ahnung, ich habe dich noch nie bewusst gesehen. Es ist einfach so: Wenn 20 Leute in einem Raum sind und jemand aussieht wie ich, ist es mir schon klar, dass ich den Leuten im Gedächtnis bleibe. Daran merke ich auch, dass ich schon heraussteche. Umgekehrt ist es auch so: Ich hatte mal eine Person im Kurs, die teils aus Nigeria ist, und ich wusste immer, wann sie anwesend war, während mir andere vielleicht weniger aufgefallen sind. 

Ich wurde auch schon gefragt, zu welcher Seite ich mich mehr zugehörig fühle. Ja, irgendwie schon die Schweiz, weil ich hier aufgewachsen bin. Ich denke auch auf Schweizerdeutsch, und für mich macht das mega viel aus. Ich meine, wenn du im Ausland bist, gibt es so kleine Dinge wie: «Oh Gott, der Bus kommt schon 2 Minuten zu spät», wo ich merke, ich bin schon ein kleines bisschen Schweizerin. Ich finde, solche Sachen machen es aus, aber ich hänge auch nicht mega an der Schweiz. Es wäre für mich nicht undenkbar, woanders zu leben. Ich fühle mich schon zu Hause hier, aber es ist nicht so, dass die Schweiz so stark meine Identität prägt.


Lisa

WIE IST ES DEINEN HINTERGRUND ZU HABEN?

ANGI:
Ein Vorteil meiner Nationalität ist, dass du in der Baubranche sowohl von Personen mit Migrationshintergrund als auch, weil Italiener hier gut integriert sind, von den Schweizern akzeptiert wirst. Das feiere ich eigentlich, und das Essen, das Essen ist schon gut.

CÉLINE:
Unsere Generation ist in einer freieren Welt aufgewachsen, wo sich alles langsam geöffnet hat, wo man auch andere Ansichten hatte, wo nicht mehr alles schwarz/weiss war, sondern man auch mal die Farben dahinter gesehen hat und die Individualität, die dahintersteht. Das macht es aus. Wenn du ein gutes Umfeld hast, wie wir es hatten, in dem du einfach als Mensch akzeptiert und aufgenommen bist, auch im Freundeskreis, dann spielt dein Hintergrund für dich gar keine Rolle mehr. Für mich ist es gar nicht wichtig, von wo eine Person kommt, solange sie dir Anstand und Respekt entgegenbringt: Werte, die uns auch beigebracht wurden.

Ich finde, man sollte immer das Gesamte betrachten. Man kann jemanden nicht auf eine politische Meinung, Religion oder das Optische beschränken, sondern man sollte den Menschen als Ganzes sehen, mit all seinen Facetten. Alle haben verschiedene Facetten. Du hast auch deine verschiedenen Facetten – du bist nicht nur «das», weil sonst wärst du kein Mensch mit Emotionen.

Ich finde es sehr schön, Sprache und Kultur weiterzugeben. Es ist schade, wenn man den Kindern nicht weitergibt, von wo man kommt oder auch die Traditionen, die in diesem Land oder diesen Ländern gelebt werden. Dass du Kulturen kennst, die andere nicht kennen, macht dich besonders. Durch dein Wissen können andere Geschichtserfahrungen sammeln. Mit Fragen wie: «Wie ist es bei euch?».


RAMIS:
Ich habe mehr Bezug zur arabischen Seite meiner Familie. Mittlerweile ist sie nicht mehr im arabischen Raum. Ich kenne ihre Geschichte besser als die der Schweizer Seite. Das liegt auch am Familienverhältnis mütterlicherseits.

Was das Essen betrifft, da fühle ich mich sehr zur arabischen Seite hingezogen, das muss ich sagen. Aber das ist schlussendlich Geschmack. Aber ja, ganz klar, ich liebe die arabische Küche, aber ich liebe auch die Schweizer Küche. Für mich ist Essen Essen, es hat für mich nicht viel mit dem Land zu tun. Entweder ist es gut oder nicht.

Meinen Kindern würde ich wahrscheinlich genau den neutralen Umgang mitgeben, auf den ich stolz bin. Ich kann ihnen sagen: Du bist von da, ein bisschen von dort, ein bisschen von überall, aber schlussendlich entscheidest du, woher du bist.
LISA:
Es ist schon ganz anders, wenn ein Elternteil von irgendwo anders kommt. Ich habe auch viel Zeit mit Papi verbracht und viel mitbekommen. Es ist nicht so, als wäre es mir ganz fremd, aber halt im Kontext Schweiz und nicht in Nigeria. Irgendwie nicht ganz und irgendwie auch dort nur halb.

Papi hat mehr gekocht als Mami. Also, mein Papi kocht zwei Mahlzeiten am Tag und er findet halt: Wenn du essen willst, kannst du essen. Er isst nur nigerianisches Essen und kocht praktisch kein Gemüse, immer nur Reis mit etwas. Und ich bin so: Bitte wenigstens eine halbe Gurke oder so. Ich bin Vegi und das war für mich fast das Schwierigste, es gibt so gute Sachen, aber es ist nicht üblich.

Aber ich habe nigerianisches Essen schon immer gegessen. Ich kann es nicht gut kochen, er hat es mir nie beigebracht. Dann: wenn ich auf nichts Lust habe, dann mache ich mir Plantain mit irgendetwas, und ich merke: Das hat mir gefehlt. Manchmal brauchst du das wieder, und es schmeckt einfach nach Kindheit.

Aber auch eine gewisse Entspannung, oder Dinge einfach auch ein bisschen lockerer zu sehen, so das «komme ich heute nicht, komme ich morgen». Ich finde das nicht schlimm, weil ich bin damit aufgewachsen, und ich merke, andere treibt das in den Wahnsinn. Ich bin froh, dass ich so bin und nicht ganz so stur. 

Ich glaube, es ist schon ein bisschen «the best of both worlds». 

Bei uns ist der zweite Name immer Yoruba, und ich ich habe das Bedürfnis, so einen Namen meinen Kindern mitzugeben, damit sie einen kleinen Teil von Nigeria haben. Ich meine, über den Namen läuft ja auch mega viel. Es gab Zeiten, in denen ich fand, Lisa passt gar nicht so zu mir, auch weil andere Leute sich unter diesem Namen jemanden anderen vorstellen. Als ich in Nigeria war, habe ich mich nicht mit Lisa vorgestellt, sondern meinen zweiten Namen gebraucht. Sie kennen Lisa nicht und haben immer «Lizard» verstanden, und ich so: «Omg, ich bin nicht Lizard». Auch meine Brüder haben einen Yoruba-Zweitnamen, und das finde ich mega cool. Du hast beides.

Ich war im Austausch in Schweden, und ich habe am Nachnamen einer Klassenkameradin erkannt, dass sie Igbo ist, also auch von Nigeria. Kaum musste ich mal meinen Nachnamen sagen, hat sie gewusst, dass ich Yoruba bin. Sie konnte nur aufgrund meines Nachnamens sagen, von wo ich bin, und das ist eben schon krass für mich. 

Schon speziell, dass diese Gedanken überhaupt entstehen.



SCHLUSSWORT Es war eine schöne Erfahrung, diesen Artikel zu schreiben. Zwar habe ich mich schon zuvor mit diesen Freund:innen über unsere Wurzeln unterhalten, aber nie in dieser Tiefe. Ich habe das Gefühl, dass ich sie durch diesen Austausch von Gedanken und Erfahrungen näher kennengelernt habe. Diese Gespräche haben mich sehr inspiriert, mir Dinge über mich selbst bewusst gemacht und mir viele Anregungen zum Nachdenken gegeben.

Wie Appiah andeutet, ist die Idee der Wurzeln keine einfache oder singuläre Geschichte, sondern eine komplexe Erzählung, die von verschiedenen kulturellen, historischen und persönlichen Faktoren geprägt ist. Die für diesen Beitrag gesammelten Antworten zeigen den Reichtum und die Herausforderungen multikultureller Identitäten auf – eine Bereicherung durch unterschiedliche Sprachen, Traditionen und Perspektiven, aber auch kompliziert durch äussere Wahrnehmungen, Stereotypen und Fragen der Zugehörigkeit. Multikulturelle Hintergründe können einzigartige Einblicke und Kenntnisse bieten, aber sie werfen auch Fragen darüber auf, wie man von anderen gesehen und verstanden wird. Vielfältige Wurzeln zu haben, ist bereichernd und komplex zugleich. Die Antworten veranschaulichen Appiahs Idee, dass Identität ein fluider Prozess ist, der sowohl von den Geschichten geprägt wird, die wir erben, als auch von denen, die wir selbst schaffen.



TENDAI BOLLINGER