Migration am Schweizer Mittagstisch



Bei uns am Familienesstisch ist Migrationspolitik heute ein absolutes Tabu. Als ich anfing, mir meine eigenen Meinungen zu bilden und mich gegen die konservativen Aussagen meiner Eltern wehrte, fachte ich Streit an. Streit, der unsere Familiendynamik unfassbar schwächte. Mein Bruder hielt sich oft raus. Fühlte sich unwohl. Wenn es am Tisch laut wurde, wurde er leise.  Meine Mama probierte, die Diskussion zu schlichten. Common Ground zu finden. Ich war es, die das Feuer entfachte. Meinem Vater widersprach. Zum Beispiel, wenn er sagte, dass seine Kunden heute wieder richtig anstrengend waren, aber das ja klar sei, da sie «Jugos» seien. Oder wenn er meinte, es sei etwas gestohlen worden, von den Äthiopiern – wem sonst. Das tat weh, und ich wurde wütend. Es tat immer dann weh, wenn anderen Menschen Unrecht widerfuhr, und sie sich selbst nicht verteidigen konnten. Ich fühlte mich verantwortlich, für sie einzustehen. Denjenigen eine Stimme zu geben, die nicht im selben Raum waren. 

In meiner zickigen Phase - wie er es nennt – habe ich angefangen mir meine eigenen Meinungen zu bilden und konnte nicht mehr stillsitzen, wenn Aussagen fielen, mit denen ich nicht einverstanden war. Ich äusserte mich direkt. Das Feuer hinterliess jedoch Narben und aus den Streitereien entstand ein langes Schweigen. 
Über mehrere Jahre hinweg hatten wir ein schlechtes Verhältnis. Wir sprachen kaum noch miteinander. Jedes Gespräch mit ihm war durch einen unterschwelligen Ton der Verachtung geprägt. Erst nachdem ich ausgezogen bin, konnten wir wieder einen Draht zueinander finden. Wir sprachen nie wieder über Migration. 



Lange habe ich das Thema vermieden. Habe vor extremen Aussagen einen Bogen gemacht. Ich wusste, wieviel es von mir gefordert hatte, und war nicht bereit, mich dem wieder auszusetzen. Für das Modul frage ich meine Mama, nach einer gefühlten Ewigkeit, wie ihre momentane Meinung zur Migrationspolitik aussieht. 

Sie lächelt ein wenig, weiss genau, dass wir gegensätzlicher Meinung sind, und ich ihre konservativen Ansichten hören möchte:  «Kommt ein bisschen drauf an, ob sie sich anpassen. Mich stört es, wenn sie die Mentalität der Schweizer nicht annehmen. Es gibt viele, die denken, sie können nach den Regeln von ihrem Land leben. Wenn sie in die Schweiz kommen, sollen sie nach unseren Regeln leben und unsere Sprache lernen. Wenn ich sehe, dass sie das nicht tun, dann habe ich Mühe mit denen. Wir Schweizer, wir arbeiten und arbeiten. Was vielleicht auch nicht gesund ist.»

Sie macht eine kleine Pause, schaut, wie ich reagiere, und überlegt sich, was sie sonst noch sagen könnte.
«Viele kommen ja auch hierher wegen der Kohle. Sie wissen genau, dass es ihnen hier gut gehen wird. Manchmal hört man Geschichten, dass, wenn sie nicht arbeiten können, sie mehr Geld bekommen als ein Rentner. Das finde ich auch nicht fair.»

Wer erzählt ihr diese Geschichten, frage ich mich. So genau weiss sie das auch nicht. 


In Gesprächen mit meinem Umfeld, stellte ich schnell fest, dass diese Vorurteile nicht nur in meiner Familie existieren. Ein Freund erzählte mir, dass seine Eltern ihm immer weis machen wollten, Migrant:innen seien Betrüger:innen und faul – bis sie eines Besseren belehrt wurden. Manchmal zumindest. Wenn eine Person mit migrantischem Hintergrund ihnen persönlich begegnete und sie bemerkten, wie grossartig diese Person eigentlich ist, war sie plötzlich eine Ausnahme. Für diese eine Person änderte sich ihre Sichtweise, aber für alle anderen Migrant:innen blieb das Misstrauen bestehen. «In erster Linie soll es dem Schweizer Volk gut gehen», finden sie. «Dann können wir uns um die «Anderen» kümmern.» 

In anderen Gesprächen höre ich Ähnliches. Die Eltern einer Bekannten werden stark von den Medien beeinflusst. Sie lesen immer die Thurgauer Zeitung, und diese negativen Schlagzeilen die machen etwas mit ihren Köpfen, erklärt sie mir: «Wenn Migrant:innen nur einmal schlecht dargestellt werden, wird direkt generalisiert. ALLE klauen, randalieren. Das ist der einfache Weg, den viele Generationen gegangen sind und heute noch gehen.» 

Eine Kollegin berichtet mir von dem Bild, das ihre Eltern von Migrant:innen haben: «Beim Mittagessen mit meinen Eltern sprechen sie oft über alltägliche Situationen. Dass sie Teenager mit Energy Drinks an Bahnhöfen, auf Schulplätzen oder vor dem Dorfkiosk gesehen haben. Sie fragen sich, ob ihre Eltern wissen, wo sich die Kinder rumtreiben. Sie verstehen nicht, was das soll. Uns Kindern hätten sie das nicht erlaubt.»

Eine weitere Geschichte: «Letzte Woche hat meine Mama mitbekommen, wie eine Frau mit ausländischem Hintergrund an der Kasse etwas umtauschen wollte, aber kein Deutsch sprach.  Die Frau wurde laut und hat die Kassiererin angeschrien. Ihr Mann der dabei und hat übersetzt. Als mir meine Mutter das kopfschüttelnd erzählte, wusste ich genau, was in ihr vorging. Ich selbst wusste nicht, wieviel Wahrheit in der Geschichte steckt und ob sie möglicherweise durch einen Funken Voreingenommenheit ausgeschmückt wurde.» 

Ich frage mich, wieso das passiert. Wieso viele von uns generalisieren und Migrant:innen nicht als Individuen wahrnehmen. Wieso müssen direkt alle Personen mit ausländischem Hintergrund kriminell sein, nur weil ein:e Einzige:r etwas Verbotenes getan hat? Wenn in den Nachrichten steht, dass der Vergewaltiger ein Eidgenosse ist, dann wird auch nicht direkt generalisiert. Oft wird sogar weggeschaut. Noch nie habe ich meine Eltern sagen hören, dass die Schweizer alle gleich seien. Logisch. Weil sie sich selbst damit identifizieren. 

Anstatt Migrant:innen als individuelle Menschen mit eigenen Geschichten zu betrachten, werden sie oft verallgemeinert und in stereotype Kategorien gesteckt. Eine Verallgemeinerung, die verhindert, dass ein echtes Verständnis für die Person hinter dem Vorurteil und eine empathische Auseinandersetzung mit ihr entstehen kann.

Es ist so einfach, auf andere Gruppen zu zeigen. Dadurch hebt man sich selbst ab. Das gibt den Schweizer:innen einen Kick, nicht wahr? Die Schweiz ist nämlich so perfekt. 



Zurück in meinem Heimatdorf laufe ich durch die Strassen und versuche, diese Perfektion festzuhalten. Was macht die Schweiz aus? Welche Details habe ich als Kind so bewusst wahrgenommen, die mir heute längst entgehen? Die perfekt geschnittenen Hecken, die wie künstliche Barrieren aussehen. Garagentore in Reih und Glied, dem Prinzip der Wiederholung und Perfektion folgend. Die Gruppe von E-Scootern, die ordentlich in dem dafür vorgesehenen Parkplatz abgestellt sind. Auch der Pflastersteinweg, dessen Kurve und Übergang zwischen den Materialien nahtlos und präzise durchgeführt ist. Ich achte genau darauf. Entdecke die kleinen Gräser zwischen den Pflastersteinen, die irgendwo hinmöchten, wo sie nicht erwünscht sind. Lebewesen, die existieren wollen. Um ihr Überleben kämpfen. Und entweder durch die harten Bedingungen des Winters sterben oder durch menschliche Hände, die nicht möchten, dass man sie sieht. Die möchten, dass von aussen Alles makellos aussieht. Doch wir wissen Alle, dass sich unter den sauber angeordneten Steinen Schmutz verbirgt. Aber das soll man von aussen nicht sehen. Es soll gepflegt wirken, kontrolliert. Diese Kontrolle. Warum identifizieren sich so viele Schweizer:innen damit?  

Mit 11 glaubte ich mich verliebt zu haben. Indische Wurzeln hatte er. Wir küssten uns ganz heimlich vor dem Haus. Ich war mir sicher, jemand von den Nachbarn sah es. Ich war mir sicher, meine Mutter sah es. Alle im Quartier waren so. Sie schauten immer aus dem Fenster. Probierten, herauszufinden, was hinter den Wänden der anderen Familien geschieht. Mussten alles wissen und wussten es auch. Es war mir unangenehm, und ich verstand es auch nie. Sie sah uns. Sagte mir, ich solle mich nicht in einen Ausländer verlieben: «Einmal in eine solchen Familie eingeheiratet, kommt man nicht mehr heraus. Diese Familien behandeln ihre Frauen schlecht. Sie schlagen sie, nehmen ihnen ihre Freiheiten.»

Ich habe den Jungen nicht wieder getroffen. Ich weiss nicht mehr, wie er heisst. Wenn ich ihn auf der Strasse sehen würde, würde ich ihn erkennen. Aber es tut weh, daran zu denken. Dass ich mich in dem Alter noch so beeinflussen liess. Mich erst viel später selbständig mit dem Thema auseinandersetzte und mir meine eigene Realität erbaute. 

Vor einigen Jahren schenkte ich meiner Mama dann ein Buch über Frauen, die Burkas tragen und von ihren persönlichen Beziehungen mit dem Kopftuch berichteten. Viele deckten Vorurteile auf und erklärten, wie viel ihnen das Kleidungsstück gibt. Ich glaube nicht, dass meine Mama das Buch gelesen hat. Und wenn schon, dann wird sie es nicht verstanden haben. Sie glaubt heute noch, dass solche Meinungen nur durch jahrelange Gehirnwäsche entstehen können. 


Alles hier hat ein System. Und das wird auch so weitergegeben. Ich merke das auch an meinem Drang, meine Wohnung so ordentlich zu halten. So, dass sie aussieht wie im Katalog. Als ob niemand darin leben würde. Wie ein Wohnungs-Abteil in der Ikea, durch das man sich inspirieren lassen kann, wie das perfekte Leben auszusehen hat. Als hätte man alles im Griff.

Wenn wir von der Schweiz sprechen, dann denken viele an Geld, Sicherheit, Ordnung, Sauberkeit, Pünktlichkeit und eine hohe Arbeitsmoral. Alles Dinge, mit denen sich der/die typische Schweizer:in identifiziert – und in den meisten Fällen auch stolz darauf ist. Es gibt Menschen viel Sicherheit, in einer perfekten Welt zu leben, wo alles voraussehbar ist. Veränderung bringt immer eine gewisse Bedrohung mit sich. Und so fühlen sich viele Schweizer:innen bedroht, wenn neue Kulturen dieses perfekte Bild der Schweiz aufmischen. 

Aber wovor hat die Schweiz Angst? Was geht durch diese kulturelle Durchmischung verloren? Vielleicht fällt es uns so schwer und auf andere Gemeinschaften einzulassen, weil wir gar nicht verstehen, wie wunderschön komplex und vielschichtig eine Kultur sein kann. Nur weil wir so kleinkariert sind. Das mangelnde Verständnis und unsere eingeschränkte Wahrnehmung führen dazu, dass ihre Werte und Lebensweisen nicht anerkannt werden. Und dadurch verpassen wir die Chance, einen Teil dieser Tiefe an Kultur zu erleben, von der wir nur träumen können.
 

Ich frag mich nun, wo meine Rolle in dieser ganzen Thematik ist. Wie kann man versuchen, die Werte einer Gesellschaft zu verändern, ohne direkt eine Familendynamik ins Schwanken zu bringen? Wann sagt man was und wann nicht? Wann steht man ein für seine Meinung? In Gesprächen mit meinem Umfeld höre ich ganz unterschiedliche Arten, damit umzugehen. Ähnlich wie bei mir, wird bei einigen zuhause nicht mehr über Migrationspolitik gesprochen, weil das Verhältnis stabil gehalten werden möchte. Andere denken, es sei unsere Pflicht, unsere Eltern auf den neusten Stand zu bringen. Denn wer tut es sonst? Viele wägen ab, wie viel Leid eine Diskussion verursachen könnte, und entscheiden dann, ob es sich lohnt, für ihre Werte einzustehen. Alle sind sich jedoch einig: Um Vorurteile abzubauen, muss darüber gesprochen werden. 

Werte werden über Generationen weitergegeben und sind tief verankert. Aber man kann an jedem Anker rütteln, oder nicht? Ich bin davon überzeugt, dass Vorurteile abgebaut werden können, wenn man sich mit den Migrant:innen auseinandersetzt. Wenn wir ihre Geschichte, ihre Kultur verstehen möchten. Fast die Hälfte der Schweizer Bevölkerung hat mittlerweile einen Migrationshintergrund. Wir sind also ständig in Kontakt miteinander. Doch das eigentliche Problem sehe ich darin, dass dabei keine echte Solidarität entsteht. Es wird selten ein Schritt auf die Migrant:innen zu gemacht. Wieso übersehen wir so oft ihre Hintergründe im Alltag? Wann sind wir bereit, wirklich zu verstehen?

Vielleicht entsteht der Drang, die Wahrheit zu finden, genau dann, wenn man auf Menschen trifft, deren Meinungen nicht mit dem übereinstimmen, was man von zuhause oder im eigenen Umfeld kennt. Im Austausch mit verschiedenen Perspektiven wird einem oft bewusst, dass es nicht nur eine Wahrheit gibt, sondern viele – und plötzlich beginnt man, die eigene Realität zu hinterfragen. 

Mir ist es lange schwergefallen, nach solch irritierenden Gesprächen selbst herauszufinden, was nun stimmt. In dieser Welt, in der Medien durch Manipulation und gezielte Wortwahl Wahrheiten verdrehen, ist es eine Herausforderung, zu unterscheiden, was echt ist und was nicht. Oft war ich überfordert von Fakten, Behauptungen und ständigen Updates und fühlte mich von lauten Stimmen oder geschickter Rhetorik beeinflusst.

Doch worauf ich immer vertrauen kann, ist meine Intuition. Und eine Freundin hat einen Gedanken mit mir geteilt, mit dem ich mich extrem identifizieren konnte. Sie meint: «Man fängt an zu sprechen und fragt sich, warum man gewisse Ansichten hat. Wieso man denkt wie man denkt. Freunde erklären dir gewisse Dinge, und du merkst, du hast das irgendwie anders gelernt von zuhause…
...Aber so, wie sie mir das sagen, fühlt es sich in meinem Herzen besser und logischer an, als das, was ich von zuhause gehört habe.»
Und ich denke, letztlich ist es wohl unser Herz, dem wir vertrauen können. Ob etwas in uns resoniert und stimmig ist oder ob es uns innerlich abstösst, und wir Widerstand dagegen spüren. 

Migrationspolitik bleibt eine Diskussion, die manche lieber meiden – oft aus Angst, eingefahrene Sichtweisen zu hinterfragen. Aber wenn wir uns trauen, den Dialog zu suchen und unsere Stimme zu erheben, können wir vielleicht den ersten Schritt tun, um Vorurteile zu überwinden. Es ist an der Zeit, diese Gespräche zu führen – für eine Gesellschaft, in der wir alle Platz finden.



ANONYM