Mano antroji oda – Meine zweite Haut


Auf der Suche nach meiner Identität greife ich in den Schrank und bemerke, dass, Kleidung ein wesentlicher Bestandteil von ihr ist. Meine Bekleidung stammt von meiner Oma, welche diese für mich aufbewahrt und teils umgenäht hat. Über die vielen Jahre ist sie zu meiner zweiten Haut geworden und bildet ein Teil meines Ichs. Es ist nach außen vielleicht nicht sichtbar, aber was ich trage und meine Affinität zu Kleidung und Mode stehen in tiefer Verbindung zu meinen litauischen Wurzeln mütterlicherseits. Egal, wo ich bin und was ich mache, ich trage immer etwas von meiner Oma mit mir. Durch die viele Kleidung, die sie mir vermacht hat, spüre ich eine große Nähe zu ihr und ihrer Geschichte. Die Kleidung symbolisiert ihre Unabhängigkeit und Emanzipation.


KLEIDUNG MIT GESCHICHTE

Ich trug schon immer größtenteils gebrauchte Kleidung aus zweiter Hand und lernte, trotz wenig Geld und unabhängig von der Meinung der anderen einen eigenen Stil zu entwickeln. Meine Oma spielte eine wichtige Rolle in dieser Entwicklung, sie liebte die Secondhand-Läden und Märkte in Berlin, und immer, wenn sie uns aus Litauen besuchte, kam sie, trotz wenig Geld, nie mit leeren Händen. Wir sammelten zusammen Fashionmagazine aus Litauen, Deutschland und anderen Ländern, gingen gemeinsam in Einkaufsläden, und ich zeigte ihr, was mir gefiel oder was ich gerne kaufen würde. Wenn ich sie besuchte, gingen wir auf riesige Märkte oder in lokale Secondhand-Läden, wo ich mir oft etwas aussuchen durfte – eines der ersten Teile war ein Top. Ich sehe es noch heute vor mir - es war grau mit Glitzersteinchen aus den 2000ern und wirklich freizügig, meine Mutter hätte mir nie erlaubt, es zu tragen. Seitdem trug ich es jeden Tag und fühlte mich cool und erwachsen. Ich begann in meiner Oma einen wichtigen Support zu sehen, um meinen Style individuell zu gestalten. Denn sie fand alles toll und schön an mir, ohne mich zu kritisieren, auch wenn ich heute im Rückblick, paar Style-Phasen wirklich gerne übersprungen hätte. Wir verbrachten Stunden auf Flohmärkten oder in alten Boutiquen, und sie brachte mir bei, richtig zu verhandeln. Außerdem hat sie vieles für meine Schwester und mich umgenäht, gestrickt und gehäkelt. Wenn wir uns die Originalkleider nicht leisten konnten, nähte sie unsere Oma einfach. 



Bis heute ist das Erste, was wir tun, wenn wir unsere Oma in Litauen besuchen: Eine Tour durch ihr Haus, jedes neue Kleidungsstück was, dass sie für uns aufbewahrt, genäht oder gestrickt hat, muss sie uns präsentieren – Karton für Karton, Schrank für Schrank. „Nesinešk drabužių, aš turiu tau viska pakankamai namie!“ („Bring nichts an Kleidung mit, ich habe alles Zuhause da“!), heißt es immer. Dann werden Kleider, Röcke, Hosen, Oberteile, Jacken und und und anprobiert. Trotz der Distanz vertraue ich meiner litauischen Familie, die vor allem aus meiner Mutter, Schwester und Oma besteht. Ich liebe es, mich mit ihnen über Mode auszutauschen, wenn wir uns nicht in Person sehen können, beraten wir uns dann gegenseitig per Chat und schicken uns Inspirationen. 
Besonders in den letzten Jahren ist meine Sehnsucht nach der litauischen Kultur, der Sprache, dem Essen immer spürbarer und stärker geworden. Also bin ich, häufig auch mit Freund:innen, wieder öfter zu Besuch in der Kleinstadt, in der meiner Oma lebt. Das Erste was wir machen, ist, ihre neusten Errungenschaften oder gefundenen Sachen kollektiv anzuprobieren und uns darüber auszutauschen. Sie lebt in einem großen Haus voller Kleidung und Accessoires aus den verschiedensten Zeiten, Generationen, Ländern und Größen. Vor allem Stoffe aus Leinen, Garn aus Wolle und Ketten und Ringe mit oder aus Bernstein wecken in mir Gefühle für die  litauische Kultur, die ich seit klein auf fest in meinem Herzen trage. Sie und auch die Kleidungsstücke, die ich vor allem dank meiner Oma erlangt habe, bieten mir den Zugang, mich wieder in jegliche Welten zu integrieren. Sie sind die Verbindung, die ich von klein auf habe, und meine weibliche, familiäre Seite spielt eine der wichtigsten Rollen in meinem Leben. Durch diese individuelle zweite Haut bietet meine Oma mir Empowerment und Emanzipation, verbunden mit (vor allem der litauischen-) Unabhängigkeit. 


LITAUEN UND DIE SOWJETUNION

1991 errang Litauen, nach beinahe 200 Jahren unter russischer und später sowjetischer Herrschaft, seine Unabhängigkeit. Kulturelle Identitäten wurden überall in der Sowjetunion unterdrückt. Die Garderobe wurde in Textilkombinaten zentral für über 100 Völker produziert, sie spiegelte ein graues und einheitliches Bild in der Öffentlichkeit wider. Uniforme Mode prägte den Alltag über 11 Zeitzonen von Wladiwostok bis nach Königsberg. Traditionelle Bekleidung, wie die Trachten, drückte Nationalstolz aus, weshalb sie verboten und daher selbst genäht sowie für mehrere Generationen gut aufbewahrt wurde. Westliche Mode war schwer zugänglich und oft nur über Schwarzmarktkanäle oder private Netzwerke erhältlich. In praktisch jeder Stadt gab es einen Bauernmarkt, wo moderne, privat geschneiderte Textilien gehandelt worden sind. Geschneidert wurde nach Bild-Vorlagen, die oft aus alten und abgegriffenen Katalogen oder Magazinen stammten. Mit der Unabhängigkeitserklärung von 1990 öffnete sich Litauen dem Westen, und Mode wurde zu einem Ausdruck von Freiheit und Identität, sowohl durch individuellen Stil als auch durch das Feiern von Volksfesten und das Tragen von Trachten. Heute verbindet Litauens Mode Tradition mit Moderne, reflektiert kulturelles Erbe und die Wiederentdeckung nationaler Identität, und zugleich existieren viele Geschäfte, die internationale Marken anbieten und den Individualismus fördern.


SALOMEJA

Als älteste von drei Geschwistern wuchs Salomeja, so heisst meine Oma, in ärmlichen Verhältnissen in einer Kleinstadt in der Nähe von Kaunas auf.  Es war die Zeit der Sowjetunion. Ihre Kindheit verbrachte sie in zwei Outfit Variationen, bestehend aus Schuluniform und einem Trainingsanzug. Nach der Schulzeit interessierte sie sich immer mehr für Mode und ein individuelles Styling. „Praeityje tiesiog nieko nebuvo“ („Es gab früher einfach nichts!“), erzählte sie mir am Telefon. Die Zeit war geprägt von Mangel, doch Salomeja war eine wahre Meisterin darin, Ressourcen zu nutzen und zu verwandeln, und dies spiegelt sich besonders in der Art und Weise wider, wie sie mit Kleidung umging. Die Tatsache, dass es „nichts gab“, wie sie selbst sagt, hielt sie nicht davon ab, sich kreativ auszudrücken. Für sie war Kleidung nicht nur ein Mittel, um sich warm zu halten oder den gesellschaftlichen Anforderungen zu genügen, sondern vor allem eine Möglichkeit, ihre Individualität in einer gleichförmigen Gesellschaft neu zu definieren. Sie sammelte Pilze und Beeren, um sich nebenbei Geld zu verdienen, und lernte Nähen und Stricken. Später, als sie älter war, besuchte sie gerne Märkte auch außerhalb ihrer Heimat. Ihre liebsten Orte waren die Welt-/Auslands-Märkte in Moskau und St. Petersburg, wo sie und ihre Freundinnen gemeinsam nach den neusten und trendigsten Kleidungsstücken Ausschau hielten und Inspiration suchten. Diese Reisen waren für sie nicht nur eine Notwendigkeit, um an modische Kleidung zu gelangen, sondern auch ein abenteuerliches Erlebnis, das sie verband. Sie erzählte mir oft, wie sie nach Stoffen oder Wolle für ihre Projekte suchte oder mit den Verkäufer:innen Deals ausmachte. Oft auch mit Bildern aus Magazinen bewaffnet, um ihre Wünsche zu verdeutlichen. „Ich wollte unbedingt dieses Paar Schuhe vom Markt und habe es dann auch bekommen, die Märkte waren sehr korrupt, aber ich konnte die Verkäufer überzeugen“, erzählte sie mir stolz Solche Geschichten zeigen mir, dass Kleidung für sie mehr als nur etwas Materielles war. Es war ein Weg, sich selbst zu verwirklichen und sich inmitten von Einschränkungen ein Stück Freiheit zu erkämpfen. Einige Jahre nach der Unabhängigkeit Litauens lernte ihre Tochter, meine Mutter, meinen Dad kennen und zog nach Berlin und bekam mich. In Berlin lernte meine Oma Lutz, ihren späteren Freund, kennen, er fand sie sehr attraktiv und sagte zu ihr, sie sei schön gekleidet, anders als die anderen Frauen an dem Abend. Er war Deutscher, und von nun an reisten beide viel miteinander durch die Welt, und ich habe das Gefühl, seitdem war ihm auch wichtig, was er anzieht – vielleicht hat sie ihn auch eher dazu gezwungen hihi. Beide verband die gemeinsame Freude an Kleidungsstücken und Mode aus der ganzen Welt. Die Leidenschaft meiner Oma für Mode spiegelt sich in jedem Kleidungsstück wider, das sie besitzt. Sie erzählt mir und meiner Schwester Geschichten über ihre Käufe von Mänteln, besonderen Kleidern und Schuhen, die sie sich mit viel Aufwand auf Märkten beschaffte. Über Kleider, die sie vor der Wende ergatterte und nach der Wende an besonderen Orten wie zum Beispiel Italien kaufte. Viele dieser Stücke befinden sich heute noch in ihrem Ankleidezimmer, sorgfältig aufbewahrt, jedes einzelne mit einer eigenen Geschichte. Meine Mutter, meine Schwester oder meine Tanten und Cousinen besitzen ebenfalls viel, was ihnen von Salomeja geschenkt wurde.  Oft verbringen wir Stunden damit, durch die Kartons und Schränke zu gehen, während sie mir die Ursprünge jedes Kleidungsstücks erklärt und uns, ohne zu zögern, die schönsten Sachen schenkt. Die einzige Bedingung ist es, die Kleidungsstücke mit Bedacht zu tragen, zu pflegen und nicht weiterzuverkaufen. Sogar Freunden von mir gab sie Sachen mit, es ist ihre Art, Liebe auszudrücken. 

KLEIDUNG UND IDENTITÄT

Ehrlich gesagt ist fast jedes zweite Teil in meinem Kleiderschrank von meiner Oma und Mutter oder aus litauischen Läden und Märkten. Hosen, Tops, Röcke, Jacken, Schmuck oder, oder! Alles Dinge, die sie, meine Mutter oder andere Frauen aus unserem Kreis in ihren jüngeren Jahren getragen haben oder die von meiner Familie litauischerseits stammen. Besondere Stücke, die einen Wert haben, weil sie sie für mich aufbewahrt und bei ihrem Anblick an mich gedacht hat. In meinem Verhalten entdecke ich Ähnlichkeiten zu meiner Oma, denn ich liebe den Handel und Schnäppchen auf Märken oder Plattformen für online Vintage. Mode ist eines der Dinge, die mich immer wieder faszinieren und inspirieren. Mit dieser metaphorischen zweiten Haut in Form von Stoff, kann man sich selbst definieren, integrieren, verwirklichen und eine Identität aufbauen. Meine Oma hat mir von klein auf gezeigt, was Kleidung bedeuten kann und wie essenziell sie je nach Beschaffenheit, Schnitt, Material, Farbe, Textur und Symbolik für den Ausdruck einer persönlichen Identität ist. Sich zu kleiden bedeutet, konstruierten Identitäten zu entkommen. Man muss es mir auch nicht ansehen, woher meine Kleidung stammt, ob sie neu oder gebraucht ist und was sie aussagt, es ist eher der persönliche Wert, der für mich im Fokus steht. Denn mit jedem Teil trage ich ein Stückchen von meiner Oma Salomeja, meiner Mutter und den litauischen Wurzeln mit mir. Kleidung bedeutet für mich Zuneigung und Heimat. Sie dient als Quelle der Freude, als Zugang zu der Sprache, zu meiner Familie und als ein Weg, mich selbst zu finden und auszuleben.




LAURA ZIMMERMANN