Talahon: Vom Witz zum gefährlichen Stereotyp – Gedanken zu einer gegenwärtigen Jugendkultur
Der Begriff Talahon kommt aus dem Arabischen (تعال هنا , Ta’al lahon) und bedeutet so viel wie „Komm her“. Ursprünglich eine Redewendung, wurde Talahon durch den gleichnamigen Rapsong TA3AL LAHON vom deutschen Rapper Hassan mit kurdisch-syrischen Wurzeln zum Socialmedia-Phänomen und sogar zum Finalisten für das deutsche Jugendwort des Jahres 2024. Ausgehend vom Rapsong wurde der Begriff schnell zur Bezeichnung einer bestimmten Gruppe junger Menschen, die sich in Videos zum Song präsentieren und sich zum Teil auch mit dessen Aussage identifizieren können. Hassan drückt sich aggressiv und selbstsicher aus: "Ta3al lahon, ich zieh' dich zur Ecke, deine Jungs sehen, wie ich in dir Messer steche.“ Anfänglich posierten, meist in Tiktok-Videos, mehrere junge Männer zum Song, sangen mit und boxten in die Luft, sogenanntes Schattenboxen. Videos wie diese bekamen sehr schnell sehr viel Aufmerksamkeit, und verbreiteten sich wie ein Lauffeuer auf mehreren Socialmedia-Plattformen. Dem posierenden jungen Mann wurde der Begriff Talahon gegeben, und er wurde dadurch zur Witzfigur. Viele Phänomene und auch Gruppierungen werden erst richtig wahrgenommen, wenn man sie benennen kann. So hatten plötzlich tausende von Socialmedia-Nutzer:innen die Möglichkeit dazu, diese Subkultur von Jugendlichen, die ihnen oft schon vor dem Talahon-Trend bekannt war, zu definieren. Sobald etwas definierbar wird, bildet es auch eine angreifbare Oberfläche und ist der Öffentlichkeit ausgeliefert. Mittlerweile bezieht sich die meistvertretene Definition von Talahons auf deren Kleidung: Gucci Cap und Umhängetaschen, Skinnyjeans, enganliegende T-Shirts, Fussballtrikots, Jogginghosen, Nike TN und Balenciaga Sneakers. Dazu kommen Accessoires wie elektronische Zigaretten, Silberketten und das vermutete Messer in der Hosentasche. Als Teil meiner Recherche besuche ich eine Gruppe Jugendlicher im Schulhaus Buhnrain in Seebach. Die acht 14 bis 15-Jährigen der dritten Sekundarstufe versammeln sich nach und nach im Zimmer der Schulsozialarbeiterin, froh, nicht in den Unterricht zu müssen. Sie streiten sich um die Plätze auf den Sofas und necken sich untereinander. Mir gegenüber verhalten sie sich sehr kritisch. Sie wollen genau wissen, was ich von ihnen will, wieso mich ihre Kleidung so interessiert und was ich mit diesen Informationen anstellen werde. Mehrmals fragen sie mich, ob ich sie an die Lehrpersonen verpfeifen werde oder was ich mit der Tonaufnahme, die ich fürs Transkribieren brauche, mache. Genaue Antworten kann ich ihnen leider nicht wirklich liefern. Ich weiss selbst nicht, was ich mir aus diesem Gespräch erhoffe oder in welche Richtung es verlaufen wird.
Ich befrage sie über ihre Kleidung, ihre Intention dahinter, und wie sie von der Gesellschaft gesehen werden wollen. Die meisten meinen, ihnen sei ihre Kleidung relativ egal. Sie wollen gepflegt wirken und trotzdem komfortabel gekleidet sein. Bequem, aber hübsch. Jogginghose und Fakelashes. Ausserhalb der Schule kleiden sie sich gern „elegant“, vor allem wenn sie in die Stadt gehen, unter fremden Menschen sind. Haare und Make-Up sind ein grosses Thema. Ein Mädchen erzählt mir von ihrer Auseinandersetzung mit ihrem Afro. Sie sei dafür früher oft fertig gemacht worden, heute stehe sie aber zu ihren Haaren, sie seien Teil ihrer Identität und Kultur, ihr Stolz. Sie erzählen mir, was sie an Jungs mögen: Anständig, elegant, “nicht so Talahon”. In ihren Tiktok-Reposts suchen sie für mich Jungs, die ihnen gefallen und eine zeigt mir Fotos von ihrem Freund.
Ein Jugendlicher meint, er ziehe bewusst Jeans und keine Jogginghose an, um ernst genommen zu werden, erwachsen zu wirken. Sein Kleidungsstil komme von seinem Vater, sie haben beide eine Begeisterung für Mode. Er zeigt mir seine Instagram-Highlights, Gruppenfotos mit ähnlich gekleideten Freunden, Spiegel-Selfies mit seinen Outfits und seinen Cousin im Kosovo, dessen Stil er bewundert.
Sie versuchen einander spezifischen Styles zuzuordnen, einer habe UK-, der andere Züri-Style. Plötzlich bricht eine laute Diskussion aus, nachdem einer der Jugendlichen einen gemeinsamen Freund als Talahon bezeichnet hat. Er trage Mittelscheitel, Armani, Kenzo und Dsquared, das sei Talahon-Style, ihm fehlen nur noch Balenciagas und eine Guccicap. Die Jugendlichen fangen an, sich untereinander als Talahons zu bezeichnen. Einer sagt: „Lieber köpfe ich mich als Talahon-Style zu tragen. Dann sagen alle: Talahon, Talahon, Talahon, beleidigen dich.“ Angeblich wurden die drei Jungs, die sich auf dem Sofa breit gemacht haben, vor kurzem von einer Lehrerin als Talahons bezeichnet. Die andern finden das lustig. Die Jungs sagen, ihnen sei das egal, ausser es passiere oft, dann nerve es. Niemand will sich mit dem Begriff identifizieren, er ist offensichtlich sehr negativ geprägt. Der Style sei nicht cool und Schattenboxen auch nicht. Auch Schweizer könnten Talahon sein, Hauptsache die Kleidung passe. Es gäbe viele Schweizer, die „wollen wie Ausländer sein“. „Ich hasse es, wenn ich einen Schweizer sehe mit so Kenek-Style“. Erneut bricht eine Diskussion aus: „Hä, wieso darfst du das und ein Max nicht? Er ist genauso ein Mensch wie du.“ Es sei ein spezifischer Kleidungsstil, den vor allem Menschen aus dem Balkan tragen. Ein Jugendlicher beschreibt ihn als „Shipis in den frühen 2000er“. Breite Jeans, Bomberjacke. Du solltest dich anziehen, wie du bist. Wenn du ganz friedlich bist, zieh dich auch so an.
Die meisten Videos, die man heute unter dem Talahon-Song findet, machen sich über Talahons lustig. Der Witz wurde schnell zu Hass, und Menschen geben Tipps, wo man „Talahon freie Zonen“ findet. Nach einem TikTok User, der sein Video mittlerweile wieder gelöscht hat, wären das Orte der Bildung, Kultur und Natur. Viele Socialmedia Nutzer:innen fühlen sich unter dem Begriff des Talahons und in der Anonymität des Internets sehr wohl dabei, rassistische Kommentare zu verbreiten. So finden sich unter Videos zu Talahons Kommentare wie: „Abschieben alle“, „Oh man wir waren mal so eine schöne Gesellschaft“, „Sind Talibans sowas wie Talahons?“ und „Wie konnte es dazu kommen, dass sie auf unseren Strassen existieren und nicht im Abschiebeflieger sitzen?“ Unter einem Video, das ein Rechtsrockkonzert als „Talahon freie Zone“ bezeichnet, findet man Kommentare wie: „Naja, Talahon frei bis auf die Mitarbeiter vielleicht.“ und „Da fühlt man sich sicher.“ Unter Videos von Menschen, die sich dem Begriff gegenüber kritisch äussern, findet man viel Sorge von Betroffenen: „Hatte auch mal einen Schock, als ich mir das anhören musste, habe mich so rassistisch behandelt gefühlt.“, „Die freuen sich, weil sie jetzt endlich ihren Rassismus ohne Konsequenzen zeigen können.“ und „Die dürfen nicht mehr Känak sagen und suchen was Neues um uns abwertend zu beschimpfen.“
Die einzelnen Personen, die sich noch unter dem Song zeigen, wirken sehr inszeniert und aufgesetzt, als würden sie einen Charakter spielen, um viel Klicks und Aufmerksamkeit zu generieren. Ein wichtiges Genre der Talahon-Socialmediapräsenz sind Strassenumfragen. Dabei laufen Contentcreators in Städten rum und befragen gezielt sehr junge Jugendliche, die unter die Talahon-Definition fallen. Wer hier Klicks generieren will, muss übertreiben und schockieren. Das ist sowohl den Befragten, als auch den Erstellern dieser Videos bewusst, und so werden junge Menschen zu ihrer Intelligenz und Einstellung zu Liebe und Beziehungen befragt, um dann mit den schockierendsten Clips Umsatz zu generieren. Bei diesen Talahon Umfragen wird oft konservatives und misogynes Gedankengut vertreten, sowie Gewalt verherrlicht, was dem Talahon mit der Zeit auch einen gewalttätigen und frauenfeindlichen Ruf einbrachte.
Es stellt sich immer mehr die Frage, ob Talahons eine reale Gesellschaftsgruppe sind, oder nur eine erfundene Witzfigur, der alle Jugendlichen zugeordnet werden, welche in der Gesellschaft negativ auffallen, um bestehende rassistische Vorurteile und Bedenken zu stärken.
Jugendliche provozieren, schockieren und suchen schon immer nach der eigenen Identität. Vor allem, wenn man als junger migrantischer Mensch schon immer Ausgrenzung erfährt und nicht als vollwertiger Deutscher angesehen wird, auch wenn man in Deutschland aufgewachsen ist, ist die Identitätsbildung ein schwieriger Prozess. Zwischen Kulturen aufzuwachsen und sich nie ganz zugehörig zu fühlen, führt dazu, dass junge migrantische Menschen sich in einem Prozess der Selbstethnisierung Zugehörigkeit schaffen. Dabei gleichen sie sich auch schnell Vorurteilen an, die ihnen ihre ganze Adoleszenz über vorgehalten wurden. Sagt ein von Vorurteilen geprägtes System vor, wie man sein soll, und zwar immer im negativen Sinne, ist es naheliegend, sich von diesem System verlassen zu fühlen und diese Perspektivlosigkeit in Wut umzuwandeln. Wenn mir kein gesundes, positives Bild vermittelt wird, wie ich sein kann, sondern immer nur ein negatives, ist es sehr viel einfacher, mich diesem Bild hinzugeben, als mein ganzes Leben lang um Zugehörigkeit und Anerkennung zu ringen.
Wird genau hingeschaut, erkennt man anhand des Begriffs Talahon deutlich, wie schnell Sprache und Witze in der digitalen Welt neue Bedeutung bekommen und damit missbraucht werden können, um Vorurteile zu bestärken. Es fasziniert mich immer wieder, wie schnell sich Menschen gewissen Meinungen und Bewegungen anschliessen, ohne sie zu hinterfragen. Über jemanden zu lachen, heisst meist auch, sich ihm überzuordnen. Humor wird oft verwendet, um Machtverhältnisse zu etablieren oder zu verstärken. Was mich in meiner Recherche fast am meisten getroffen hat, war Hassans Aussage, als er über den auf seinem Song basierenden Talahon-Trend befragt wurde: „Ich habe mir gedacht: ‚Ich will Songs machen, ich will Rapper werden'. Und dann wird auf einmal ein Meme daraus. Das war schmerzhaft.“ Ob Sekundarschüler in Seebach oder Rapper in Frankfurt; Mensch will ernst genommen werden. Wir alle haben verschiedene Voraussetzungen, um von der Gesellschaft als ernstzunehmendes Mitglied anerkannt zu werden. Vor allem in Staatsstrukturen, die auf Exklusivität basieren, und insbesondere für Personen mit Migrationshintergrund wird eine scheinbar unerreichbare Zugehörigkeit postuliert, von der man nur bei bestem „Verhalten und Integration“ eventuell Teil werden kann.
Wir leben alle in einer schwer zu navigierenden postmigrantischen Gesellschaft, über die wenig geredet wird, und lassen uns schnell von Onlinetrends und Memes begeistern. Unsere Gesellschaft ist immer noch geprägt von Ausgrenzung und dem Streben nach Zugehörigkeit. Das zu ändern braucht viel gesellschaftliche Aufarbeitung, die Übernahme von Verantwortlichkeit und das Hinterfragen von diskriminierenden Strukturen. Es ist immer wichtig, sich die Frage zu stellen, wer über wen lacht und welche Machtstrukturen dabei unterstützt werden. Nur so kann verhindert werden, dass Begriffe wie Talahon weiterhin als Waffe gegen junge Menschen verwendet werden, die ohnehin mit Identität und Zugehörigkeit zu kämpfen haben.
Vielen Dank an Claudia Steiner und die Schüler:innen des Schulhaus Buhnrain, sowie Dilyara Müller-Suleymanova für die Unterstützung.
Quellen: Wikipedia.com-Talahon / Genius.com-Ta3al Lahon, Hassan (DEU) / Hiphhop.de - „Ta3al Lahon“-Rapper Hassan äußert sich erstmals zum „Talahon“-Meme, Ebenger Michael